Ein Beitrag von Anton Holzer im Bergauf 01-2021
Es ist ein bedeckter Tag. Dichte Wolken liegen über der Gipfelkette im Hintergrund. Die Wanderer haben sich von den Wetteraussichten freilich nicht von ihrer Unternehmung abhalten lassen. Nach den Mühen des Aufstiegs haben sie nun eine Rast eingelegt. Ihr Jausensack ist in unserer Aufnahme deutlich zu erkennen, ebenso ein Rucksack, der hinter dem Rücken der Dame mit Hut liegt. Und ganz im Vordergrund ist ein Gehstock zu erkennen. Auch eine Wasserflasche und vielleicht zwei Becher liegen am Boden. Das alles ist nicht ungewöhnlich. Was aber hebt diese Aufnahme von zahlreichen anderen ab? Es ist die Tatsache, dass die Wandergruppe hauptsächlich aus Frauen besteht. Drei der vier Porträtierten im Bild sind Frauen, zwei von ihnen blicken in die Kamera.
Betrachten wir die Wandergruppe etwas genauer: Als erstes springt uns der weit ausladende Hut der Dame im Vordergrund ins Auge. Mit Hut am Berg? Ja, um 1900 war das durchaus üblich, wenn auch nicht allzu weit verbreitet. Nicht nur Männer trugen, wie wir im Bild sehen, einen Hut, sondern gelegentlich auch die Frauen. Vor allem dann, wenn es sie bürgerlicher Herkunft waren. Und wenn nicht alles täuscht, handelt es sich hier tatsächlich um einen recht mondänen Stadthut, der am Kopf der Dame den Weg in Hochgebirge gefunden hat. Ob sie ihn während des schweißtreibenden Aufstiegs in der Hand gehalten hat und erst fürs Foto aufgesetzt hat, wissen wir nicht. Unsere Aufnahme entstand um das Jahr 1910 in den Sextener Dolomiten. Bereits zwanzig Jahre später wäre eine solche Szene undenkbar gewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg haben sich die Kleidungsgewohnheiten der Berggeher und vor allem der Berggeherinnen radikal verändert. Die Frauen legten nun im Hochgebirge ihre eleganten Hüte ab, endgültig.
Wir wissen wenig über dieses Foto. Gesichert ist lediglich, dass die Aufnahme, die auf einem dunkelgrünen Karton aufgeklebt ist, im Jahr 2005 zusammen mit einem Konvolut anderer Bilder über eine Schenkung in das Archiv des Alpenverein-Museums gelangte. Es handelt sich insgesamt um etwa 120 Schwarz-Weiß-Fotos im Format 77 mal 110 mm, die, so wie dieses, allesamt auf ein stärkeres färbiges Papier aufkaschiert waren. Format und Art der Verarbeitung legen nahe, dass es sich beim Fotografen um einen Amateur handelt. Warum? Weil diese häufig mit den kleinformatigen Apparaten unterwegs waren. Und vor allem: weil professionelle Fotografen ihre Ausbeute meist nicht in Alben klebten oder sie aufwändig auf schönen Karton aufkaschierten. Aber auch der private Charakter der Bilder deutet in Richtung Amateur. Und noch etwas hilft uns, etwas Licht ins Dunkel dieser Bilder zu bringen: ein schriftliches Dokument, das dem Fotokonvolut beilag. Es handelt sich um die Kopie eines Trauscheins, der im fernen Jahr 1894 ausgestellt worden war.
Versuchen wir anhand dieser spärlichen Hinweise die überlieferten Bilder zu deuten. Die Trauung fand am 9. April 1894 in Berlin statt. Der Name des Ehemannes lautet: Leberecht Adolf Robert John, der Name der Ehefrau war Maria Hedwig Elsbeth Walther. Wie alt die beiden zu diesem Zeitpunkt waren, wissen wir nicht. Wir können aber mit einigem Grund annehmen, dass es sich um ein gutbürgerliches Paar handelte. Darauf deutet nicht nur die recht mondäne Kleidung der Wanderer hin, sondern auch ihre Ausflugsziele, die in den Bildern festgehalten sind. Die Reisen führten das Paar vor dem Ersten Weltkrieg nach Tirol, Südtirol, in diverse Berggegenden Norditaliens und nach Venedig. Von Berlin aus waren das ausgedehnte Reisen, die ein gewisses Budget erforderten.
Ist der Herr im Bild mit Bart, Schnauzer und Brille Herr Leberecht? Oder stand dieser hinter der Kamera? Dass die Dame mit Hut Maria Hedwig Elsbeth Walther, verehelichte Leberecht, ist, scheint naheliegend. Ebenso wie zu vermuten ist, dass die beiden jüngeren Frauen, die in die Kamera blicken, die Töchter des Paares sind. Aber wer weiß. Vielleicht sind die Zusammenhänge auch ganz anders. Über hundert Jahre nachdem dieses Foto entstand, lassen sich die genauen Umstände seiner Entstehung nicht mehr endgültig klären. Und so wollen wir uns zum Abschluss noch einmal dem zuwenden, was zu sehen ist: Vier Personen, die sich im Gebirge für eine Rast niedergelassen haben. Soweit ist alles klar. Merkwürdig aber ist, dass der Fotograf die Wandergruppe nicht – wie das üblich war – mittig ins Bild gesetzt hat. Er hat sie vielmehr an den Rand gedrängt. Wieso? Auch hier müssen wir spekulieren: Um den Blick auf die Gebirgsgruppe im Hintergrund freizuhalten? Weil ihm der Apparat verrutscht ist? Wohl kaum. Fragen bleiben also offen. Genau das ist das Faszinierende an historischen Fotografien. Dass sie, gerade wenn wir wenig über sie wissen, unsere Fantasie in Gang setzen.
Dr. Anton Holzer ist Fotohistoriker, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte“, er lebt in Wien. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus“ (Darmstadt 2014, Primus Verlag), „Fotografie in Österreich. Geschichte, Entwicklungen, Protagonisten 1895–1955“ (Wien 2013, Metro Verlag) sowie „Die erkämpfte Republik. 1918/19 in Fotografien“ (Wien, Salzburg 2018, Residenz Verlag)
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