Gletscher sind keine toten Eismassen. Ganz im Gegenteil. Sie stoßen vor und ziehen sich zurück, allein im jahreszeitlichen Verlauf lassen sich Massenveränderungen ausmachen. Durch ihre Fließbewegung prägen die „ewigen Firne“ die Alpenlandschaft stetig mit. Wenig andere Landschaftsphänomene hinterlassen derart vielfältige Spuren. Höchste Zeit, auch ihre „Hinterlassenschaften“ unter Schutz zu stellen.
von Theresa Girardi, erschienen im Bergauf 02-2021
Über Jahrhunderte haben Gletscher bei uns Menschen prägende Eindrücke hinterlassen. Entweder haben wir ihren Vorstoß gefürchtet und Stoßgebete zum Himmel gelassen, die Eisriesen mögen nicht näher rücken. Oder aber, mit Erkennen ihres unaufhaltsamen Schwunds, das Gletschersterben bedauert. Liliana Dagostin, Leiterin der Abteilung für Raumplanung und Naturschutz, hat mir ein eindrucksvolles Bild aus der Laternenbildersammlung des Alpenvereins gezeigt: Darauf ist eine Kanone zu sehen, die quer über den Gletscher gehievt wird. Das Bild ist im 1. Weltkrieg am Tabarettaferner entstanden.
Es möge uns allen Mahnmal sein, hat Liliana gemeint, damit am Rücken der Gletscher nie mehr Kriege geführt werden. Blickt man heute auf so manchen Alpengletscher, so werden Parallelen deutlich. Schweres Geschütz wird in Form von Baggern aufgefahren, um die Eislandschaft für die intensivtouristische Nutzung zu bändigen. Aufklaffende Gletscherspalten werden gefüllt, Schneemassen umgeschlichtet und zur Verwendung im nächsten Jahr mit Vlies eingepackt. Darunter verstehen die Betreiber von Gletscherskigebieten ironischerweise ebenfalls: Gletscherschutz.
Auch ihnen wurde zuletzt bewusst, dass sie sich auf immer dünnerem Eis bewegen. Bis auf einzelne Ausnahmen befinden sich die Alpengletscher allesamt am Rückzug. Eine Entwicklung, die nach aktuellen Prognosen nicht mehr umkehrbar scheint. Ein letztes Aufbäumen also? Ein Melken massentouristischer Angebote, bevor das jähe Ende droht? Zu Beginn des letzten Jahres haben die Projektanten der umstrittenen Gletscherehe Pitztal/Ötztal ihr Vorhaben kurz vor der mündlichen Verhandlung mitten im UVP-Verfahren zurückgezogen. Die Dimensionen des Ausbaus wären gigantisch gewesen: 64 ha neue Pistenflächen, Sprengung einer Gratspitze, ein 100.000 m³ fassender Speicherteich, Errichtung eines 600 Meter langen Tunnels u. v. m. Mit der Verbauung wäre eine gänzlich ursprüngliche Hochgebirgslandschaft um den Linken Fernerkogel endgültig zerstört worden.
Dass so ein Vorhaben überhaupt bis zur UVP gelangt, ist auf eine Aufweichung des Tiroler Naturschutzgesetzes im Jahr 2004 zurückzuführen. Nachdem 1991 der absolute Schutz der Gletscher, der Gletschervorfelder und der Moränen in Tirol gesetzlich verankert und damit jede skitechnische Erschließung von Gletschern und ihren Einzugsgebieten verboten worden war, wurde der umfassende Schutzstatus 2004 wieder aufgehoben. Im Jahr 2006 folgte ein „Raumordnungsprogramm über den Schutz der Gletscher“. Dieses nimmt jedoch bewusst Areale von skitouristischem Interesse vom Schutzstatus aus. Wie jenes um den Linken Fernerkogel.
Ob die Projektwerber ihre Pläne aufgrund des breiten öffentlichen Widerstands (eine vom Österreichischen Alpenverein gestützte Petition gegen den Zusammenschluss erreichte über 150.000 Unterschriften) oder durch späte Einsicht über die fehlende Rentabilität (laut Analysen der Uni Innsbruck ziehen sich die Gletscher am Projektgebiet überdurchschnittlich schnell zurück) auf Eis legten, ist nicht bekannt. Viel wichtiger die Frage: Wie können solche Projekte in Zukunft verhindert werden? Und wohin geht die Reise beim Gletscherschutz, wenn das Gletschereis weniger wird?
Der Österreichische Alpenverein setzt sich mit anderen Umweltschutzorganisationen für den absoluten und ausnahmslosen Schutz der Gletscher ein. Als erster Schritt müsste die naturschutzrechtliche Regelung von vor 2004 wiederhergestellt werden. Des Weiteren bedarf es eines Überdenkens des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes (kurz UVPG 2000) in seiner jetzigen Form. Es stellt das wichtigste Beurteilungsinstrument über umweltschädliche Einflüsse von großen Erschließungsprojekten, insbesondere in Hinblick auf den Erschließungsdruck durch skitouristische Vorhaben, dar.
Die bisher in der Praxis angewandte Abgrenzung des Gletscherschigebiets, wie es im UVP-G 2000 normiert ist, betrifft jedoch nur die faktische Berührung von Eis. Damit werden Anlagen, die auf Moränen, Gletschervorfeldern oder Einzugsgebieten errichtet werden, nicht erfasst. Was nach dem Abschmelzen der Eisdecke zum Vorschein kommt, wird im landesrechtlichen Kontext oft als „alpines Ödland“ betitelt. „Öd“ ist dieser Boden aber ganz und gar nicht. Er entpuppt sich als Nährboden für die Ansiedelung einer vielfältigen Fauna und Flora. Aus dieser neuen Perspektive betrachtet, haben wir in den Alpen keine unberührteren Landschaften als jene, die Tausende Jahre vom Gletscher gehütet wurden.
Der italienische Geowissenschaftler Claudio Smiraglia geht sogar so weit, die durch abschmelzende Gletscher freigegebenen Landschaftselemente als „natural cultural heritage“ zu bezeichnen. Ihm zufolge befinde sich das Hochgebirge aktuell in einer Transitionsphase von glazialer hin zu periglazialer Landschaft. Folglich seien Landschaftsformen wie Moränen, Gletscherseen, Nunataks oder Gletscherschliffe Naturdenkmäler von großem kulturellen Wert – sie sind Zeugen massiver Umwälzungen, an denen wir Menschen elementar beteiligt sind. Wenn wir die Gletscher schon nicht retten können, sollten wir dann nicht wenigstens ihr Erbe bewahren?
Sinnvoll wäre etwa, die aktuelle Regelung im UVP-G 2000, welche die „Neuerschließung oder Änderung von Gletscherskigebieten, wenn damit eine Flächeninanspruchnahme durch Pistenneubau oder Lifttrassen verbunden ist“ als UVP-pflichtig vorsieht, auf alle Hochgebirgsräume über einer bestimmten Seehöhe auszuweiten. Dann würden auch die sensiblen Räume, die nicht direkt von Eis bedeckt sind, mitbedacht. Im Protokoll Bodenschutz der Alpenkonvention ist festgehalten, dass Gletscher angesichts ihrer besonderen ökologischen Fragilität auch unter den Begriff der „labilen Gebiete“ fallen und damit dort keine Genehmigung für den Bau und die Planierung von Skipisten erteilt werden solle. Anerkannt als das, was sie sind, nämlich „lebendige“ und dynamische Gebilde, wurden Gletscher bei der Beurteilung von Erschließungsprojekten jedoch nie.
Auch die breite Öffentlichkeit spricht sich für einen umfassenden Gletscherschutz aus. Das geht aus einer Erhebung des WWF Österreich hervor: Demnach ist der weitere Ausbau von Gletscher- und Hochgebirgsregionen für 87 Prozent der über 1.000 Befragten nicht akzeptabel. 64 Prozent wünschen sich generell einen Ausbaustopp von Seilbahnen – und 20 Prozent sogar einen Rückbau. Interessant ist auch der Blick in die Vergangenheit. Zwar stand vor 50 Jahren der Gletscherschutz bei Einheimischen und Urlaubern noch nicht ganz oben. Allerdings wurden die von Gletschern geprägten Landschaftselemente bereits als schutzwürdig erachtet. „Der Leidensdruck der Gletscher war wohl noch nicht groß genug“, attestierte Peter Haßlacher dazu in einem Beitrag der Heimatblätter 2009. Mittlerweile ist er es.
Mit den Gletschern schwinden auch die Arten
Eine im Jänner publizierte Studie hat den Zusammenhang von Alpenflora und dem Rückgang von Gletschern in den italienischen Alpen untersucht. Bis zu 22 Prozent der im Gletscherumfeld wachsenden Pflanzen wird es langfristig nicht mehr geben, wenn die Gletscher einmal nicht mehr sind, prognostizieren die Studienautoren um Gianalberto Losapio. Zwar komme es zunächst zu einem vermehrten Ansiedeln, auch seltener Arten. Langfristig werden sie aber verdrängt – es kommt zum Biodiversitätsverlust. Betroffen sind laut den Autoren lokal etwa Steinbrechgewächse wie der Gegenblättrige Steinbrech.
Das Tempo nimmt zu
Die Gletscher schrumpfen immer schneller. Die Geschwindigkeit der aktuellen globalen Gletscherschmelze ist nach Angaben des World Glacier Monitoring Service (WGMS) ohne Beispiel in der Geschichte. Im Juni 2020 wurde eine Studie von Geografen der Universität Erlangen-Nürnberg im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht, die erstmals versuchte, das gesamte alpine Gletschervorkommen zu berücksichtigen. Demnach haben die alpinen Gletscher in Frankreich, der Schweiz, Österreich und Italien von 2000 bis 2014 etwa ein Sechstel, also rund 17 Prozent, ihres Eisvolumens verloren.