[01. April 2022] Die aktuellen Daten und Messwerte belegen einen durchschnittlichen Rückzug der Eisriesen um 11 Meter Länge. Diese Abschwächung des mittleren Rückzugs im Vergleich zum Vorjahr (15 Meter) bedeutet aber keinesfalls eine Trendwende. Der Gletscherschwund setzt sich kontinuierlich fort, wenn auch in der aktuellen Messperiode ein wenig gebremst. Die größte Längenänderung wurde in der Venedigergruppe gemessen, wo sich das Schlatenkees (Tirol) um 54,5 Meter Länge zurückzog. Der unaufhaltsame Gletscherrückgang führt auch vor Augen, wie dringend der Schutz der hochalpinen Flächen neu definiert werden muss.
Das Gletschermessteam des Alpenvereins hat im vergangenen Sommer 91 Gletscher österreichweit neu vermessen. 84 davon (92,3 %) haben sich im Beobachtungszeitraum 2020/2021 weiter zurückgezogen, nur sieben (7,7 %) sind mit einer Längenänderung von weniger als einem Meter stationär geblieben. Mit einem durchschnittlichen Rückgang von 11 Metern setzt sich der Gletscherschwund kontinuierlich fort.
„Die Bedingungen für die Gletscher waren in der aktuellen Messperiode günstiger als in den Vorjahren, da der Hochsommer in Summe annähernd normal temperiert verlief. Jedoch ist auch eine annähernd dem 30jährigen Mittel entsprechende Sommertemperatur so hoch, dass sie die Fortsetzung des herrschenden Gletscherschwundes bewirkt“
Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer, Leiter des Alpenvereins-Gletschermessdienstes
Wichtig für die Gletscher waren vor allem die deutlich zu kühlen Monate April und Mai, welche die starke sommerliche Abschmelzung verzögerten. Dank dieser Verzögerung wurde die Schneedecke bis zum Ende des Sommers zwar großflächig, aber nicht zur Gänze abgeschmolzen.
Zusätzlich zu den bloßen Längenänderungen haben die Gletschermesser in ganz Österreich markante optische Veränderungen registriert, die zwar in Zahlen nicht erfassbar sind, aber den Gletscherschwund untrüglich belegen: Etwa eisfrei werdende Felsbereiche, die Zerteilung von Gletschern, großflächiger Eiszerfall, ausdünnendes Eis, Bildung von Einsturztrichtern, Anreicherung von Schutt an den Gletscheroberflächen und die Bildung neuer Seen.
Die Längenänderungen spiegeln allerdings nicht die Massen- und Flächenverluste sowie die Abnahme der Bewegungsdynamik der Eisriesen – wie die Bewegungsmessungen des Alpenvereins an der Pasterze und am Hintereisferner zeigen – wider. Der verringerte Rückzug der meisten Gletscher ist nur mit dem bis in den Sommer hineinwirkenden Abschmelzschutz der winterlichen Schneedecke zu erklären.
Dieser Effekt zeigt sich auch bei den Höhenänderungen, die an Österreichs größtem Gletscher, der Pasterze am Großglockner, gemessen wurden. Die Verluste sind zwar geringer als im Vorjahr, doch am anhaltenden Rückzug ändert dies nichts. Die Pasterze hat sich in dieser Messperiode um 42,7 Meter Länge zurückgezogen. Das schon seit Jahren im Zerfall befindliche Schlatenkees wies mit 54,5 Metern den höchsten Rückzugswert in Österreich auf, das ebenso in der Venedigergruppe gelegene Untersulzbachkees mit 35,3 Metern den dritthöchsten Wert.
Einzig der tief gelegene, südalpine Eiskargletscher in den Karnischen Alpen hob sich einmal mehr von allen anderen Gletschern in Österreich ab. Reichlich Schneefall im Winter und zusätzlicher Lawinenschnee ließen den Gletscher zum weitaus überwiegenden Teil seiner Fläche schneebedeckt bleiben, weshalb der Gletscher auch ohne Vorliegen von Längenänderungswerten als stationär eingestuft wurde.
„Obwohl der aktuelle durchschnittliche Rückzug von 11 Metern der drittniederste der letzten 20 Jahre war, kann dies in Anbetracht der übrigen Beobachtungen kaum als ‚Verschnaufpause‘ für die Gletscher gewertet werden. Vielmehr fügt sich auch dieses Jahr nahtlos in die herrschende Periode drastischen Gletscherschwundes ein, an deren zukünftiger Fortdauer nicht zu zweifeln ist.“
Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer, Leiter des Alpenvereins-Gletschermessdienstes
Der Alpenverein als Naturschutzorganisation setzt sich seit Jahren für den Gletscherschutz und den Schutz der umliegenden hochalpinen Regionen ein. Nicht zuletzt gehen mit der Gletscherschmelze auch wertvolle Daten verloren. „Im Gletschereis finden sich mehr Informationen über das Klima der Vergangenheit als in jedem Buch. Als wäre der stetige Verlust dieses ‚Geo-Archivs‘ nicht schon schlimm genug müssen wir uns auch die unangenehmen Folgen für die Menschen vor Auge führen“, mahnt Ingrid Hayek, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins.
„Das rasche globale Abschmelzen der Gletscher trägt einen wesentlichen Anteil zum Anstieg des Meeresspiegels, Vermurungen und Überschwemmungen inklusive. Die fehlenden natürlichen Wasserspeicher im Gebirge führen in weiterer Folge zu regionaler Trockenheit“
Ingrid Hayek, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins
Bereits seit 131 Jahren beobachtet der Gletschermessdienst des Alpenvereins die heimischen Gletscher und registriert akribisch deren Längenänderungen. An einigen Gletschern werden zusätzlich Messungen der Fließgeschwindigkeiten und der Oberflächenhöhe durchgeführt.
Im aktuellen Berichtsjahr 2020/2021 waren für den Alpenverein 23 ehrenamtliche Gletschermesser mit rund 42 Begleitpersonen unter der Leitung von Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer vom Institut für Geographie und Raumforschung an der Universität Graz im Einsatz. Sie nahmen österreichweit 91 Gletscher in 12 Gebirgsgruppen – vom Dachsteingebirge bis hin zur Silvretta – unter die Lupe.
Die Gletscherberichte und die Fotodokumentationen aus den Alpenvereins-Archiven vermitteln ein einzigartiges Bild von der Entwicklung der Gletscher in den Ostalpen und sind wissenschaftlich von internationaler Relevanz.
Zahlen und Vergleichsbilder zum Gletscherbericht sind hier einsehbar: Presse - Gletscherbericht